von Burkhard Küfner
Anlass dieses Vortrags
Die Budo-Etikette schreibt für verschiedene Situationen ganz bestimmte Verhaltensweisen vor, die sich im Verlaufe einiger Jahrtausende gebildet haben. Diese Verhaltensweisen sind von allen Schülern eines Meisters einzuhalten. Zu den „Schülern“ zählen nicht nur Budotreibende mit einem Kyu-Grad, sondern auch dem Meister untergeordnete Dan-Träger.
Speziell bei Dan-Trägern ist die Erstellung von Verhaltensnormen nicht ganz so einfach, weil bei den üblichen Beschreibungen der Dan-Grade sehr viel von geistigen Inhalten, erwarteten Reife-Graden usw. geschrieben wird. Diese von Schwarzgurt-Trägern erwarteten Verhalten bzgl. ihrer geistigen Entwicklung dann aber in einen Verhaltens-Kodex umzumünzen erweist sich als sehr problematisch. Es stellt sich nämlich die Frage, wie weit die Entwicklung der mentalen Reife beim Meister selbst vorausgesetzt werden kann und wie reproduzierbar und gerecht die Reife eines anderen Menschen überhaupt beurteilt werden kann.
Aber so ganz aussichtslos war das geplante Unterfangen dann doch nicht, weil ich zu meiner Überraschung bei den Unterlagen zur Trainer-C-Ausbildung fündig wurde! Walter Knör hat sich als damaliger Landeslehrreferent schon sehr viele und tiefgründige Gedanken darüber gemacht, welche Anforderungen an einen Übungsleiter gestellt werden und welchen Erwartungen er gerecht werden muss bzw. sollte. Davon ausgehend konnte ich dann eine Liste von Verhaltens-Erwartungen an Schüler und Dan-Träger im KSV Unterwössen erstellen.
„Klassische“ Budo-Etikette
Jeder Budoka dürfte die Inhalte der klassischen Etikette kennen und mit ihnen vertraut sein. Darin sind folgende Punkte definitiv festgelegt:
• die Kleiderordnung
• die Hygiene
• das Verhalten im Dojo
• das Ritual des An- und Abgrüßens
• das Verhalten im Training
• Das Verhalten bei Prüfungen
Diese „klassischen“ Vorschriften beschäftigen sich also hauptsächlich mit dem Verhalten der Budokas generell und praktisch nur am Rande mit den Erwartungen, die man an einen Dan-Träger stellt. Sie sind auch den JJVB-Webseiten zu entnehmen.
„Erweiterte“ Budo-Etikette
Während die „klassische“ Etikette wie oben beschrieben hauptsächlich die Anfänger betrifft, die mit den fernöstlichen Gepflogenheiten noch nicht so vertraut sind, existiert natürlich auch ein Ehrenkodex für Übungsleiter. Dieser Kodex soll sicherstellen, dass sich auch frischgebackene ÜL ihren Schülern gegenüber korrekt verhalten und die neue Position nicht zur Selbstdarstellung missbraucht wird.
Der untenstehende Text ist dem Skript „Fachübungsleiter C Ausbildung“ von Walter Knör entnommen, der sie damals als Landeslehrreferent verfasst hat. Ich habe sie lediglich leicht erweitert, um auch dem mentalen Aspekt der Budo-Ausbildung Rechnung zu tragen.
Grundsätze der Etikette
Höflichkeit, Demut und Respekt sind die Grundlage der Etikette und werden durch den Gruß (Rei) symbolisiert. Die Etikette ist im Ju-Jutsu nicht nur eine äußere Form, sondern eine innere Haltung und damit schließlich der Weg zur inneren Ruhe und Ausgeglichenheit.
Die Werte des Budo und damit des Ju-Jutsu liegen neben dem Erlernen einer Vielzahl von Techniken auch in der strengen Etikette dieser Sportart begründet. Nur wenn Technik und Grundsätze der Etikette von der Gemeinschaft eines Dojo mit Leben erfüllt werden, können die Schüler des Ju-Jutsu den eigentlichen und wahren Wert des Budo erkennen. Es ist die Aufgabe und Pflicht, im besonderen der hohen Dan-Träger, dafür zu sorgen, dass auch in einem der heutigen Zeit angepassten modernen Ju-Jutsu der wertvolle Geist des traditionellen Budo erhalten bleibt.
Verhalten auf der Matte
Obige Verhaltensregeln gelten für alle Ju-Jutsuka ohne Berücksichtigung ihrer Graduierung! Die folgenden Regeln gelten speziell für Ju-Jutsuka, die als Trainer höhere Verantwortung übernehmen müssen. (BK)
Die Position des Übungsleiters
An den ÜL richten die verschiedenen Parteien unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich seines Verhaltens. Der ÜL soll alle diese Erwartungen erfüllen. Er muss sich die Kenntnisse und Fertigkeiten in seiner Ausbildung aneignen und das Ganze in der Praxis umsetzen. Dabei muss er zum Teil liebgewonnene und eingeschliffene Verhaltensweisen im Sport aufgeben und sich teilweise zwingen, etwas neu oder anders zu machen.
4. Trainer erziehen ihre Sportler darüber hinaus
5. Das Interesse der Ju-Jutsuka, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihr Glück stehen
über den Interessen und den Erfolgszielen der Trainer sowie der Sportorganisationen.
Alle Trainingsmaßnahmen sollen dem Alter, der Erfahrung sowie dem aktuellen physischen
und psychischen Zustand der Sportler entsprechen.
6. Die Trainer verpflichten sich, den Gebrauch verbotener Mittel (Doping) zu unterbinden
und Suchtgefahren (Drogen-, Nikotin- und Alkoholmissbrauch) vorzubeugen.Sie wirken
durch gezielte Aufklärung und Wahrnehmung ihrer Vorbildfunktion negativen Auswüchsen
entgegenwirken.
Die 10 Gebote des Übungsleiters
Asiatische Weisheit: Bist du Lehrer, so darfst du erst recht nicht aufhören, Schüler zu sein.
Bedeutung der Dangrade (Beschreibungen von Werner Lind mit meinen Bemerkungen)
Aus den nachfolgenden Beschreibungen der Dangrade geht hervor, dass die Erwartungen in der Regel sehr theoretisch, ja geradezu philosophisch abgefasst sind. Sie stellen vor allem den Idealfall dar, der in der Praxis vermutlich eher selten anzutreffen sein wird. (BK)
1. Dan (Shodan)
Der erste Dangrad berechtigt zum Tragen des schwarzen Gürtels und ist der erste Schülergrad auf dem Weg. Diese Graduierung entspricht nicht, wie häufig angenommen, der Meisterschaft in einer Budodisziplin, denn sie bezeugt keinen Wegfortschritt, sondern lediglich ein in der Haltung sichtbar werdendes inneres Potential, dank dem der Wegunterricht möglich wird. Der 1. Dan sagt über einen Menschen, der ihn erreicht hat, dass er in der Lage ist, zu erkennen, dass hinter der körperlichen Übung ein Weg steht, dessen Meisterschaft zu Höherem befähigt als die bloße Technik. Die Möglichkeit, das zu erkennen, hat er sich in jahrelanger Suche nach Formperfektion in den Kyu-Stufen erworben. Nun liegt der Weg vor ihm. Doch er weiß nicht um das Wie dieses Weges, denn sein bisheriges Wissen ist nichts weiter als eine Vorahnung. Deshalb wird diese Stufe auch als „Grad des Suchenden“ bezeichnet. Noch ist kein Schritt getan, doch die Voraussetzung, dass das Fortschreiten auf dem Weg beginnen kann, ist jetzt gegeben.
→ der Budoka mit dem 1. Dan ist also noch in der Formstufe „gefangen“ und es ist noch kein Fortschritt in der geistigen Vervollkommnung sichtbar! (BK)
2. Dan (Nidan)
Diese Graduierung erhält ein Übender der Kampfkünste, der „am Anfang des Weges“ steht. Sie unterscheidet sich von der ersten Dan-Graduierung dadurch, dass der Schüler nun die Bedingungen des Weges durch seine rechte Haltung verstanden hat und weiß, worauf es ankommt. Doch er hat sich noch nicht endgültig entschieden, den Weg mit allen Konsequenzen zu gehen. Er spürt die Anziehungskraft des Weges, doch die Hintertür zur Flucht ist noch offen. Er weiß noch nicht, ob er den Anforderungen des Weges wirklich gewachsen ist.
→ der Budoka mit dem 2. Dan sollte schon erkennen, dass es hinter der reinen Technik (Form) mehr gibt, was die Weiter-Entwicklung im Budo wie im Leben betrifft. (BK)
3. Dan (Sandan)
Der 3. Dan im Budo wird „Grad des anerkannten Wegschülers“ genannt. Er steht für jene Fortschrittsstufe, auf der der Schüler unwiderruflich entschlossen ist, den Weg der Kampfkünste bis an sein Lebensende zu gehen. Während der Shodan die Voraussetzung entwickelt, den Weg der Kampfkünste gehen zu können, und der Nidan darüber hinaus erfahren hat, welches der Weg der Kampfkünste ist, befindet sich der Sandan auf einer Stufe, auf der es kein Zurück mehr gibt. Sowohl beim Shodan als auch beim Nidan besteht die Möglichkeit, dass er, aus welchen Gründen auch immer, den Weg der Kampfkünste verlassen wird. Der Sandan hingegen ist dieser Gefahr nicht mehr ausgesetzt. Der Meister erkennt ihn nun als echten Wegschüler an.
Diese Entscheidung trifft der Schüler nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen und bekundet sie nicht durch Worte, sondern durch seine Haltung. Der Sandan ist weder ein Verdienst noch ein zu erreichendes Niveau, sondern eine seit jeher bestehende Berufung im Menschen, die durch die rechte Haltung sichtbar wird. Für den Sandan gibt es keine Hindernisse mehr, die im Wege stehen. Auf dieser Stufe beginnt der Schüler seinen inneren Meister zu spüren, er ruft ihn an und bringt ihn zum Vorschein. Er weiß, dass es sein eigener Innerer Meister ist, der ihn zum Suchen veranlasst, der ihn drängt und nie mehr loslässt. Hier erreicht der Übende eine gewisse Unabhängigkeit von allen äußeren Umständen. Die Kunst verändert sich, die Beziehung zum Leibhaftigen Meister wird freier und daher intensiver und reiner. Gesetze und Regeln verlieren ihre Macht und werden durch die rechte innere Haltung gegenüber allen Dingen ersetzt. Erst dieses Niveau erlaubt den Eintritt in die Ha-Stufe. Nicht durch den Verstand, sondern allein durch die Haltung hat der Sandan seine Wegrichtung entschieden.
→ der Budoka mit dem 3. Dan sollte schon gelernt haben, seine Eitelkeiten, Selbstsucht und Ich-Bezogenheit als Hindernisse zur Reife zu erkennen. Unabdingbar ist für seine Entwicklung aber eine enge Beziehung zu einem Meister! (BK)
4. Dan (Yondan)
Der Yondan ist die vierte Graduierung im Dan-System. Es ist die Stufe des Experten in der Technik, des vollendeten Kämpfers. Mit diesem Niveau ist die Grenze der rein körperlichen Technik erreicht. Der Yondan weiß, dass er von nun an neue Wege gehen muss, um sich weiter zu verbessern. Die Kampfkünste sind für ihn mittlerweile zur Religion geworden, mit der er sich völlig identifiziert. Er verinnerlicht die geistigen Aspekte der Kunst, indem er sie im Dojo und im Alltag lebt. Auf dieser Stufe ist zum ersten Mal die Verbindung zwischen Kampfkunstphilosophie und Technik möglich. Der Yondan ist in der Lage, seinen Geist, seine Atmung und seinen Ki-Fluss bei der körperlichen Übung zu kontrollieren, mit der Technik zu verbinden und zu einer maximalen Wirkung zu entwickeln. Deshalb sucht er in allem, was er tut, weiterhin die innere Perfektion. Dort liegt der Schlüssel zur Meisterschaft.
Der Yondan weiß um die Bedeutung der inneren Vervollkommnung für den Fortschritt der äußeren Technik. Er hat jene Grenze erreicht, bis zu der technischer Fortschritt allein durch Körperübung möglich ist.
Auf dieser Stufe ändert sich sehr viel. Das Denken erhält einen anderen Inhalt, der Selbstumgang wird bewusster und die Übung eine andere. Das Training wird erst hier zur wahren Wegübung. Diese Art der Übung eröffnet neue Wege. Der Yondan ist die Vorstufe zur wahren Meisterschaft.
→ erst hier geht Training der reinen Formen über in ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge der Techniken und die Verbindung zur korrekten Atemtechnik während der Ausführung. Er darf sich aber noch nicht Meister nennen (trotz perfekter Technikausführung), weil er gerade mal die Vorstufe erreicht hat. (BK)
5. Dan (Godan)
Den ersten Abschnitt der Meistergrade nennt man Kokoro. Ihm spricht man ein in der generellen Haltung sichtbar gewordenes reifes Bewusstsein zu. Dieser Abschnitt besteht aus dem 5. und 6. Dan. Der erste Grad dieses Wegabschnitts kann frühestens im Alter von 30 Jahren erreicht werden. Er setzt nicht nur eine konsequente Budo-Erfahrung, sondern auch Lebenserfahrung voraus. So kann ein Übender zwischen dem 30. und dem 42. Lebensjahr den 5. und 6. Dan erhalten, jeweils verbunden mit dem Titel Renshi. Die Renshi-Graduierungen sind selbständige Meistergrade, die die geistige Reife eines Menschen ausweisen. Sie bezeichnen die dafür notwendigen Formen der Selbstperfektion, vor allem die Überwindung der Selbstsucht.
→ ab hier ist der Budoka ein Meister, der seine Stilart eigenverantwortlich vertreten kann. (BK)
Chibana Choshin: okinawanischer Meister des Karate (1885 – 1969)
„Ein Mann der Ehre ist ein Mann, der Versprechen gibt und sie hält. Ein Mann, der Versprechen gibt und sie nicht hält, besitzt keinen Wert. Er befleckt den wertvollsten Besitz, der einem Menschen gegeben ist – die Ehre. Ein Kampfkunstmeister ist ein ehrenvoller Mann.“
Die Ausbildungsstufen Shu Ha Ri
Nach der üblichen Vorstellung geschieht die Ausbildung in den Kampfkünsten nach einem dreistufigen System. Darin beschreiben die einzelnen Stufen die Wegfortschritte in mentaler Hinsicht dem Ziel der vollendeten geistigen Reife entgegen.
Shu bedeutet „Gehorsam gegenüber den überlieferten Formen“.
Es ist nur eine Aufgabe des Übenden, die Technik zu meistern. Die andere ist es, die rechte Haltung zu suchen. Die rechte Haltung ist ein Resultat der Arbeit an sich selbst unter Aufsicht eines Meisters.
In dieser Definition wird deutlich, dass man die Grundtechniken erst sicher beherrschen muss und ohne nachzudenken anwenden kann, bevor man dazu übergehen kann, die verschiedensten Varianten auszutesten und seinen persönlichen Stil zu entwickeln (BK)
Ha ist die zweite Stufe und bedeutet „Formfreiheit“.
Der Übende beherrscht die Technik, doch nun muss er sich darum bemühen, zu seinem persönlichen Stil zu finden.
Eine Technik zu beherrschen hat nichts damit zu tun, dass man sie mit einem eingespielten Partner nahezu fehlerfrei vorführen kann. Der Partner wehrt sich ja nicht dagegen, sondern „spielt mit“. Es bedeutet, sie auch gegen des Willen eines Gegners durchziehen zu können unter Berücksichtigung der „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ (BK)
Ri ist die „Transzendenz“.
Der Übende ist in der Lage, die geraden Denklinien des Intellekts zu verlassen und ein intuitives Denken zu entwickeln, das einem Netz ähnelt.
Ein „vernetztes“ Denken heißt, dass man die einzelnen Techniken nicht mehr als isoliert voneinander stehen sieht, sondern die Gemeinsamkeiten erkennt und sich nicht nach Bewegungsvorgaben richten muss, sondern nach den dahinter liegenden Wirkprinzipien! (BK)
Ehrenkodex der KSV-Trainer und Übungsleiter (BK)
Wie bei der Beschreibung der Dan-Grade und den Ausbildungsstufen zu sehen ist, ist hier schon ein deutlicher Übergang zu den geistigen Inhalten der Budo-Ausbildung zu erkennen. Auch Karate-Meister Funakoshi Gichin hat sich sehr tiefgehende Gedanken über das richtige Verhalten eines Budokas gemacht und dieses in einen Kodex von 20 Vorschriften „gegossen“ (Shoto nijukun).
Aus allen Werken der verschiedensten Kampfkunstmeister ist immer zu entnehmen, dass eine der wichtigsten Punkte im Zusammenleben der gegenseitige Respekt ist.
Da aus verständlichen Gründen eine Überprüfung der mentalen Entwicklung (sprich der geistigen Reife oder das Fortschreiten auf dem „Weg“) in einer normalen Danprüfung nicht überprüft werden kann, sollen folgende Vorschriften für Dan-Träger dazu dienen, einen Überblick darüber zu erhalten, ob derjenige nicht „nur“ die entsprechenden Kenntnisse in den geforderten Techniken aufweist, sondern auch in seiner mentalen Entwicklung voranschreitet:
(die nachfolgende Formulierungen gelten unabhängig vom Geschlecht)
Literatur
• Walter Knör: „Fachübungsleiter-C Ausbildung“
• Werner Lind: „Lexikon der Kampfkünste“
• Werner Lind: „Budo – Der geistige Weg der Kampfkünste“
• Markwetz, Schlösser: „Kampfkunst als Lebensweg“
• Alexander Dolin: „Kempo, die Kunst des Kampfes“